Feministischer Leseclub Frauenstudien München e.V.

„Die Wand“ von Marlen Haushofer, erschienen 1963, erzählt die Geschichte einer Frau, die eines Morgens aufwacht und durch eine unsichtbare Wand von der Außenwelt abgeschnitten ist. Woher die Wand kommt, und warum jenseits der Wand kein Leben mehr existiert, diese Fragen bleiben ebenso ungeklärt wie die Frage nach der Zukunft der Frau. Es gibt kein Happy End in diesem Roman, die Geschichte hört einfach irgendwann auf.

„Ich nahm an, sie wäre eine neue Waffe, die geheimzuhalten einer der Großmächte gelungen war; eine ideale Waffe, sie hinterließ die Erde unversehrt und tötete nur Menschen und Tiere.“ 

Nicht die Wand ist tödlich, sondern das, was jenseits der Wand ist: Vielleicht ein bösartiges Gift, das Menschen und Tiere dort drüben eingeatmet haben. Tot liegen sie da, die Erzählerin kann sie aus der Ferne sehen: Sie gleichen den Märchenfiguren in „Dornröschen“, die wegen eines fiesen Zaubers in einen ewigen Schlaf fallen mussten. Die Wand ist somit die Grenze zwischen den Toten und den wenigen Lebenden: die Erzählerin, ein Hund, eine Katze und eine Kuh und die wilden Tiere im Bergwald und auf der darüber liegenden Almwiese. Sie können die gewaltige, unsichtbare Sperre nicht überwinden. Tote Vögel liegen vor der Wand, sie haben sich die Köpfe blutig geflogen und zerschmettert bei dem Versuch, hindurch zu fliegen. Die Erzählerin kommt mit ihrem Eingesperrtsein erstaunlich gut zurecht – wächst über sich hinaus, ohne dabei ‚larger than life’ sein zu wollen. Hier und da findet sie die Wand sogar gut:

„Die Wand hat unter anderem auch die Langeweile getötet. Die Wiesen, Bäume und Flüsse jenseits der Wand können sich nicht langweilen. Mit einem Ruck stand die rasende Trommel still. Dort drüben kann man nur noch den Regen, den Wind und das Knistern der leeren Häuser hören; die verhasste brüllende Stimme ist verstummt. Aber es gibt keinen mehr, der sich an der großen Stille erfreuen kann.“

Nicht von ungefähr kommt die Wertschätzung von Marlen Haushofers Werk aus der feministischen Literaturwissenschaft. Es geht in ihren Geschichten um Machtkämpfe, um das Gegeneinander der Geschlechter, bei dem die Männer zwar schlecht abschneiden, die Frauen aber zumeist auf der Strecke bleiben. Nicht so in „Die Wand“ – „the last man standing“ ist hier eine Frau.

Der Abend wird von Barbara Streidl moderiert.

Nachbericht von Barbara Streidl:

Das Buch „Die Wand“ ist zeitlos und bleibt nachhaltig im Gedächtnis – darüber waren sich die Teilnehmerinnen des Leseclubs eigentlich von Anfang an einig. Ob die Geschichte der Frau, die aufgrund nicht geklärter äußerer Umstände zur Einsamkeit mit ihren Tieren gezwungen ist, tröstlich ist, wurde diskutiert: Einerseits ist es tröstlich, wie sie sich mit ihrer Situation abfindet, kaum hadert, sondern sich um sich selbst kümmert und um ihre Tiere. Andererseits erscheint es wie eine „Ende der Welt“-Geschichte, die traurig ist.

Über die Verbindung zwischen der Erzählung und der Biografie Marlen Haushofers wurde viel spekuliert – Haushofer heiratete ihren geschiedenen Mann 1958 ein zweites Mal, weil sie als alleinstehende Frau und Mutter zweier Söhne kein gutes Leben führen konnte. Die Abkehr der Ich-Erzählerin von ihrer Rolle als Mutter und auch von den (vermeintlich) typisch weiblichen Attributen wie Schönheit können hier als Gegenentwurf gesehen werden.

Ob die Wand eine echte Wand ist, ob sie das Ergebnis einer ausgeklügelten Kriegsstrategie einer Nation ist oder doch nur im Kopf der Ich-Erzählerin, gleich einer Depression, darüber wurde auch gesprochen – und es wurde bedauert, dass die Autorin dazu nicht mehr befragt werden kann (Haushofer starb 1970 an den Folgen einer Krebserkrankung). 

Dass das Buch als Gegenentwurf zu „Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe erscheint, war für einige ziemlich klar: Im Gegensatz zu Crusoe treibt die Ich-Erzählerin aber keinerlei Industrialisierung voran oder beutet einen Eingeborenen aus, sondern setzt vielmehr auf Eigenwirtschaft in Einklang mit der Natur.