Feministischer Leseclub Frauenstudien München e.V.

Wer entscheidet, was erlaubt ist und was nicht? Und welche Rolle spielen Mütter, wenn es darum geht, die Freiheiten der Kinder zu tolerieren? Im Leseclub haben wir über den Roman „Das Sexleben eines Islamisten in Paris“ von Leïla Marouane diskutiert, in dem die Autorin mit der Doppelmoral frommer Männer, fürsorglicher Mütter und republikanischer Freiheiten abrechnet.

Die algerische Autorin Leïla Marouane musste als junge Frau Algerien verlassen, weil sie wegen ihrer Arbeit als Journalistin angefeindet wurde. Sie bezeichnet sich selbst als Feministin und betrachtet in ihren Romanen oft die Rollenvorstellungen, mit denen Frauen zu kämpfen haben.

Für ihren Roman “Das Sexleben eines Islamisten in Paris” probiert sie einen Perspektiv-Wechsel – und schreibt aus der Sicht eines Mannes: Mohammed ist ein erfolgreicher Banker, vierzig Jahre alt und lebt immer noch als Junggeselle bei seiner Mutter in einem Vorort von Paris. Eines Tages beschließt er, sich in der Innenstadt eine Wohnung zu mieten und endlich die Frauenwelt zu erobern. Jahrelang hatte er seiner Umgebung, vor allem seinen Schwestern, Moralpredigten gehalten – nun war ihm der Glaube abhanden gekommen und stattdessen der Wunsch erwacht, die eigene Jungfräulichkeit loszuwerden. Aber ohne zu heiraten.
Anders als es der Titel vermuten lässt, bleibt er dabei ziemlich erfolglos und am Ende wird er vielleicht sogar verrückt.

Mutterfigur, Spiel mit den Klischees und Kontext

Im Leseclub wurden vor allem drei Punkte diskutiert: die Mutterfigur, Marouanes Spiel mit den Klischees und der Kontext, in dem das Buch gelesen wird.

Interessanterweise entspricht die Mutter im Roman in vielen Punkten so gar nicht dem Stereotyp der “unterdrückten” Muslima, sondern ist ganz klar die Chefin innerhalb der Familie. Sie ist eine Frau, die für ihre Kinder viel “geopfert” hat – und die nun von den erwachsenen Kindern einen Ausgleich fordert und dadurch sehr besitzergreifend ist.

Die „kastrierende Mutter“

Leïla Marouane selbst spricht in Interviews von der Figur der “kastrierenden Mutter”, die in ihren Romanen immer wieder auftauche. Bestes Beispiel für die Dominanz der Mutter: als Mohammed mit seinen vierzig Jahren beim Essen verkündet, er wolle aus der elterlichen Wohnung ausziehen, droht sie ihm “Du bringst mich um!”.

Diskutiert wurde, inwiefern die Mutter – selbst wenn sie so dominant wirkt – sich in einem Geflecht von gesellschaftlichen Ansprüchen befindet und wie wichtig es für sie ist, “was die Leute sagen”. Einigen Teilnehmerinnen kam diese Mutterfigur bekannt vor, besonders in Hinblick auf den Umstand, dass sich Söhne oft viel mehr erlauben können als Töchter.

Zu Marouanes Spiel mit den Klischees kam die Diskussion auf, ob die satirischen Überzeichnungen denn von allen LeserInnen als Satire erkannt werden können – oder ob nicht die Gefahr besteht, dass sich manche in ihren Vorurteilen nur bestätigt sehen. Grund ist: In Marouanes Roman werden die einzelnen Figuren nicht sonderlich ausgearbeitet, sie wirken eher wie Fallbeispiele. So hat Mohammed drei Schwestern – die jeweils ein stereotypes Schicksal haben: die eine wurde (zwangs)verheiratet, die andere wurde verstoßen – und die dritte kommt jedes Wochenende brav mit ihrem konvertierten Ehemann zum Mittagessen.

Einigkeit herrschte aber darüber, wie treffend die Autorin den Alltagsrassismus beschreibt, dem Mohammed täglich ausgesetzt ist. Er reagiert darauf, indem er seinen Namen französiert, Bleichcreme verwendet und sich bei einem Friseur “diese Löckchen” wegmachen lässt.

Religion ist nebensächlich

Auch wenn der Titel etwas anderes vermuten lässt: Religion spielt in dem Roman eher eine untergeordnete Rolle. Sie gehört zum Alltag dazu – aber wie sie gelebt wird, das hängt ganz von den Protagonisten ab. Mohammed definiert sich selbst – vor seinem Aufbruch nach Paris – als guten Muslim, der in seiner community um Rat gefragt wurde:

“Ich muss zugeben, dass ich manchmal vergaß, wie tolerant mein seliger Großvater, dieser Sufi, gewesen war: er schenkte den Bannfluch-Verkündern keine Beachtung und ließ seine Töchter, darunter meine Mutter, den Schleier abnehmen und schickte sie zur Schule, er berief sich auf das Lakum dinukum wa li dini (Vers, der besagt, dass die Religionen sich mischen können, ohne sich gegenseitig zu schaden) und erlaubte seinem Neffen, meinem Vater, sich auf gottlosem Boden nach einem Broterwerb umzusehen; ich aber zeigte mich mitunter strenger als der Papst und schickte junge Männer in die Arbeitslosigkeit und Mädchen in unlösbare Dilemmata…”

Zusammen mit seinem jüngeren Bruder liefert Mohammed sich einen Schlagabtausch mit Koran-Zitaten. Aber sobald er seine Flucht weg aus dem Machtbereich der Mutter und hinein in die Traumstadt Paris geplant hat, spielt Religion für ihn so gut wie gar keine Rolle mehr.

Da Mohammed sich in seinem neuen Leben vor allem an Äußerlichkeiten der Pariser Schickeria orientiert, ein seltsames Frauenbild hat – und möglicherweise einfach nur verrückt wird -, kann sein Ausbruch nicht als eine Art “Emanzipationsgeschichte” gelesen werden. Oder wenn, dann nur als gescheiterte.

Das Buch

„Das Sexleben eines Islamisten in Paris“ von Leïla Marouane, erschienen in der Edition Nautilus. Hier reinlesen.

Die Autorin

Leïla Marouane wurde 1960 als ältestes von zehn Kindern algerischer Eltern auf Djerba geboren. Sie studierte in Algier Medizin und Literaturwissenschaft und arbeitete in Algerien als Journalistin, bis sie 1996 aus politischen Gründen nach Frankreich emigrierte. Vor „Das Sexleben eines Islamisten“ veröffentlichte sie vier weitere Romane, die sich alle mit Lebensentwürfen von Frauen und mit Sexismus in der algerischen Gesellschaft beschäftigen.