Feministischer Leseclub Frauenstudien München e.V.

Wie weibliche Freiheit entsteht – eine neue politische Praxis“ wurde als nächstes Buch für den Frauenstudien Leseclub ausgewählt. Dieses Buch wurde 1987 von italienischen Autorinnen des Mailänder Frauenbuchladens verfasst. Das Buch hat eine für die Frauenbewegung wichtige These: „Es sind die Beziehungen unter Frauen, auf denen weibliche Freiheit gründet.“

Die Autorinnen entwerfen in ihrem Buch eine neue Denkrichtung: Die Unterschiede unter Frauen werden als Potential der Frauenbewegung gesehen, nicht die gemeinsame  Benachteiligung im Patriarchat. Und nicht aufgrund von Forderungen und Rechten entsteht weibliche Freiheit, sondern aufgrund der Beziehungen von Frauen untereinander.

Cornelia Roth hat einen Nachbericht verfasst:

Etwa 15 Frauen (fast) allen Alters diskutierten lebhaft und kontrovers. Das Buch gab allerhand Stoff zu kritischen Nachfragen. Gleich am Anfang wurde darüber gesprochen, ob der im Buch propagierte Bezug von Frauen auf Frauen und die damit verbundene Abkapselung von Männern der Frauenbewegung nicht geschadet habe und ohne Perspektive sei. Abkapselung gegenüber Männern sei damit aber gar nicht gemeint, war eine andere Meinung: Es gehe darum, die Autorität anderer Frauen, die etwas voraus haben, anzuerkennen. Dennoch gab es und gibt es diese geschlossenen Frauenereignisse auch, weil Frauen und Männer sich so unterschiedlich verhalten, war eine weitere Meinung.

Großen Raum nahm die Frage ein, ob Frauen sich eine Unabhängigkeit von männlichen Maßstäben überhaupt leisten können, schon aus wirtschaftlichen Gründen. Wie viele Spielräume gibt es, in denen eine Frau ein Leben nach ihrem eigenen Begehren einrichten kann? Das Wort „Begehren“ – das was eine Frau antreibt – fanden viele interessant. Kann sie – muss sie – versuchen, ihre Anliegen etwa in einer Firma umzusetzen? Und muss nicht überhaupt die soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft – die Frauen noch einmal besonders trifft – viel ernster genommen werden?

An dieser Stelle kam das bedingungslose Grundeinkommen als eine Perspektive ins Spiel. Gleichzeitig wurde die Vorstellung von „Wirtschaft“ in Frage gestellt: Umfasst Wirtschaft als Hauptbereich nicht all die wichtigen Tätigkeiten, die traditionell Frauen zugeschrieben wurden wie Haushalt, Kinder aufziehen, Menschen pflegen usw.? Immer wieder ging es an diesem Punkt hin und her: Ist dieser „Haushaltsbereich“ dann wertzuschätzen und Frauen, die zu Hause bleiben für ihre Kinder, auch? Oder ist es eben dieses „weibliche Luxusleben“, das Frauen verwöhnt und unfrei macht?

Schließlich wurde noch darüber gesprochen, ob Frauen wegen ihrer Fähigkeit Kinder zu kriegen erpressbar sind. Sind sie es nur, insofern sie sich mehr verantwortlich fühlen? (Und ist das auch gut so und wo bleibt das Verantwortungsgefühl von Männern? Oder kommt es gerade?). Auch hier gab es die Frage, ob Frauen wirklich Spielräume sehen und aktiv bespielen. Der Bezug auf andere Frauen schließlich, das Lernen von ihnen, könne zu einem selbstverständlicheren weiblichen Selbstbewusstsein führen.

Laura Freisberg, Moderatorin des Leseclubs, hat einen weiteren Nachbericht verfasst:

Die Ereignisse und Idee in diesem Buch stammen aus den Jahren 1966 bis 1986, hauptsächlich von feministischen Gruppen aus Mailand. Es ist ein komplexes Buch, eine Mischung aus Erlebnisbericht und politischer Abhandlung. Aus heutiger Sicht lassen sich aber noch erstaunlich viele Punkte herausgreifen, die spannend sind: Konzepte, die in der aktuellen feministischen Debatte vielleicht in den Hintergrund gerückt sind. Zum Beispiel die Frage danach, wie wichtig der Austausch zwischen Frauen für den Feminismus ist.

Manchmal entsteht ja der Eindruck, jede Frau für sich genommen könnte ein freies, selbst bestimmtes und gleichberechtigtes Leben führen, wenn sie sich nur genug anstrengt – und den richtigen Partner findet. Doch das alles passiert in einem System, das (auch schon aus Sicht der Autorinnen von „Wie weibliche Freiheit entsteht“) patriarchalisch geprägt ist. Weshalb sich das weibliche „Begehren“ – einer der zentralen Begriffe – nicht wirklich frei entwickeln kann. Die Autorinnen wollen deshalb: „das Faktum, eine Frau zu sein, zur Grundlage der eigenen Freiheit zu machen und durch die Beziehung zu anderen Frauen mit Leben und Bedeutung zu füllen: Ich will frei sein, weil ich eine Frau bin, nicht obwohl ich eine Frau bin.“

Aber was bedeutet das, weibliche Freiheit? Dafür versuchen sie erst mal der männlich dominierten Welt einen eigenen Erfahrungsraum entgegen zu setzen – und stellen erst mal ernüchtert fest: natürlich gibt es auch eine „Genealogie“ der Frauen, doch das Verhältnis zwischen Frauen kommt in unserer Kultur ganz schön schlecht weg. Zum Beispiel werde die Mutter-Tochter-Beziehung kaum thematisiert, stattdessen habe die Mutter immer den Sohn im Arm. Da denkt man natürlich vor allem an Marien-Darstellungen, die jungfräuliche Gottesmutter und Baby Jesus – was im katholischen Italien ein dominierendes Bild ist.

Allerdings finde ich diese Analyse etwas reduziert: wenn wir über „Kultur“ reden, müssten wir doch auch etwa Märchen mit einbeziehen und in denen wird die Mutter-Tochter-Beziehung sehr häufig thematisiert. Zum Beispiel in Schneewittchen, Aschenputtel, Hänsel und Gretel und Frau Holle. Zugegebenermaßen handelt es sich oft um „Stiefmütter“ oder um ein konfliktreiches Verhältnis zwischen Mutter und Tochter.

Den Autorinnen von „Liberia delle donne di Milano“ fehlen Bilder und Geschichten von positiven Mutter-Tochter-Beziehungen, eine Analyse, wie sie übrigens auch von der amerikanischen Sexualforscherin Shere Hite vertreten wird, in „On women loving women“ (2009 erschienen). Hite ist der Meinung, dass nicht nur die Mutter-Tochter-Beziehung auf Konkurrenz und Misstrauen reduziert wird, sondern auch der Blick auf Freundschaften zwischen Frauen: die würden nur tratschen – auch übereinander und eine wirklich tiefgehende Verbindung könne Frau nur mit einem Mann eingehen. Dieser fast schon vergiftenden Idee wollen Shere Hite und die Autorinnen von „Wie weibliche Freiheit entsteht“ andere Konzepte entgegen stellen. Sie schreiben dazu: „Dieses Buch handelt von der Notwendigkeit, der Beziehung einer Frau zu einer anderen Frau Sinn und Wert zu verleihen, sie in Worten und Bildern darzustellen.“

Ihr geistiges Rüstzeug holen sich die Autorinnen dazu zum Beispiel von Schriftstellerinnen, die sie schätzen – zitiert werden Emily Dickinson und Virginia Woolf. Letztere schrieb ja den berühmt gewordenen Essay „A room of one’s own“ worin sie erklärt, wie wichtig ein Raum der Ruhe, Freiheit, Unabhängigkeit für das eigene Denken ist. Die Autorinnen gehen noch einen Schritt weiter, für sie geht es um mehr als ein konkretes Zimmer: “Das Zimmer ist also in einem anderen Sinn zu verstehen: als symbolischer Bezugsrahmen, als weiblich geprägter Orts- und Zeitrahmen, wo unsere Existenz Bedeutung hat, im Vorher und im Nachher, zur Vorbereitung und zur Bestätigung.“

Der gemeinsame Austausch in diesem geistigen Raum, das sich gegenseitige Anvertrauen zwischen Frauen nennen die Autorinnen „Affidamento“. Sie denken über eine Möglichkeit nach, wie die Beziehungen zwischen Frauen wirklich stark sein könnten und nicht durch Beziehungen zu Männern gefährdet. Ein Begriff, der fällt, ist die Vorstellung einer „Boston Ehe“, einer Frauenfreundschaft, die Züge einer Ehe aufweist. Beim Lesen stellt man sich automatisch die Frage, wie politische eigentlich diese Beziehungen sind und ob Freundschaft etwas politisches sein sollte. Für die Autorinnen ist Affidamento zugleich Inhalt und Strategie, die einzig richtige Strategie, wie Frauen ihre Freiheit erlangen können, wie sie glauben. Zuerst steht die Erkenntnis, dass sich frau als Frau auf die Suche machen muss – nicht in Anpassung an ein männliches Denken. Dann folgt die Suche nach dem Austausch mit anderen Frauen: „Überall da, wo eine Frau ihre hohen Ansprüche mit dem Wissen um die sexuelle Differenz verbunden hat, entdecken wir, dass sich diese Frau eine andere Frau als Bezugspunkt gewählt hat.“ Die Autorinnen gehen sogar so weit zu erklären: „Es ist wichtiger, Lehrmeisterinnen zu haben, als anerkannte Rechte zu besitzen“.

Ein Ort, wo sich Frauen austauschen können, gegenseitig eine „Lehrmeisterin“ oder ein Gegenüber, das sind die Selbsterfahrungsgruppen, die ein angeblich weibliches Problem lösen: das Gefühl der Isolation. Hier kann „richtige“ Kommunikation möglich werden. Die Autorinnen stellen fest: „Wahrscheinlich wurde keiner von uns beigebracht, dass es notwendig ist, die Beziehungen zu anderen Frauen besonders zu pflegen und sie als unersetzliche Quelle persönlicher Stärke, geistiger Originalität und sozialen Eingebundenseins zu betrachten.“

Diese Praxis des Affidamento grenzen sie nun ganz klar von dem ab, was sie Emanzipation nennen – denn die sei immer eine Anpassung an die Welt nach männlichen Maßstäben. Daraus folge eine Vermännlichung, die sie ablehnen und ein trügerisches Gefühl des Fortschritts, denn diese „Politik der Integration“ ist für die Autorinnen nur „Kamillentee für das wahre Übel“.

Ihr Fazit ist nämlich: „In Gesellschaften, wo sich die Emanzipation durchgesetzt hat, haben sich die Begrenzungen, die dem weibliche Begehren gesetzt waren, gelockert, aber die Kraft zur Verwirklichung des Begehrens ist nicht größer geworden.“

Diese These ist sehr spannend, wenn man sie auf die aktuelle Gleichstellungspolitik, anwendet – zum Beispiel auf die Diskussion um eine Frauenquote. Allerdings stellt sich bei mir gleich ein Widerwille ein, wenn zwischen „männlichem“ und „weiblichen“ Denken unterschieden wird. Erstens, glaube ich nicht, dass sich das klar trennen lässt. Zweitens wirkt es so, als sollte hier Frauen vorgeschrieben werden, wie sie zu denken haben, in welche Richtung sie ihr „Begehren“, ihren „Ehrgeiz“ richten sollen: wenn nämlich jede Emanzipation eine Vermännlichung und damit Verrat an der feministischen Sache ist. In Zeiten, wo wir über Sex und Gender diskutieren, wirkt das auch nicht mehr zeitgemäß.

Allerdings besitzt diese Weigerung, die eigene Freiheit nach männlichen Maßstäben zu definieren auch einen sehr revolutionären Kern: „Die Politik der Forderungen – und diese Forderungen mögen noch so richtig, noch so verbreitet sein – ist eine untergeordnete Politik der Unterordnung, denn sie geht von einem Rechtsbewusstsein aus, das einer von anderen geschaffenen Realität entspringt und somit zwangsläufig deren politische Formen übernimmt.“

Die Lösung muss deshalb sein, dass nicht nur über das eigene Begehren nach Freiheit nachgedacht wird, sondern auch über die Gesellschaft in der wir leben wollen. Ein hoher aber notwendiger Anspruch.

„Wie weibliche Freiheit entsteht“ ist vor allem ein historisches Dokument, die Autorinnen lassen uns teilhaben an ihren Diskussionen, den Entwicklungen in ihren Frauengruppen, den Erkenntnissen. Aber statt das Buch mit ein paar knackigen Statements zu beginnen – die dann in Stein gemeißelt werden können, verfolgt man beim Lesen den ganzen Prozess – inklusive „Irrtümer“.

Zum Beispiel erklären sie zu Beginn in Bezug auf Feminismus und weibliche Freiheit: „4.000 Jahre lang haben wir zugeschaut, jetzt sind uns die Augen aufgegangen.“ Etwas mehr als hundert Seiten später kommt dann die Erkenntnis: „Was wir erfunden zu haben glaubten, hatte es in Wirklichkeit schon vor uns gegeben“.

Die Selbsterfahrungspraxis wird in dem Buch als notwendiger Schritt beschrieben – aber auch als eine Methode, mit der nicht alle Fragen geklärt werden können. Die Autorinnen stellen fest, dass es hier vor allem um eine Entwicklung „in die Tiefe, nicht in die Breite“ geht. Es stellt sich die dringliche Frage, ob frau sich entscheiden muss: zwischen einem feministischen und einem gesellschaftlichen Engagement. Das ist einer der Punkte, die bei mir den größten Zwiespalt auslösen: ich frage mich, ob so ein Rückzug ins Private die Lösung sein kann. Und wieso die Hinwendung zum Mann oder zu „männlichen Welt“ automatisch als Verrate gesehen werden muss, wieso diese Ablehnung aller „männlichen Modelle“. Da ja die gesamte Gesellschaft dem „Gesetz des Vaters“ unterliegt, kann frau nur die gesamte Gesellschaft ablehnen und verliert so die Möglichkeit zur politischen Teilhabe. Außerdem ist das ein sehr reduzierter Blick auf die Gesellschaft: denn selbst wenn sie patriachalisch ist, gibt es auch ein „weibliches Erbe“. Frau-sein kann nicht als etwas Isoliertes betrachtet werden, denn ich bin immer auch Frau in Bezug auf die Gesellschaft. Ich finde, jede Erkenntnis, die durch „Affidamento“ gewonnen wird, muss automatisch wieder in Bezug gesetzt werden zum Rest der Gesellschaft.

Auch bei den Autorinnen stellt sich das Bedürfnis ein, aus der Selbsterfahrungsarbeit in den Gruppen herauszukommen – weil sie alleine nicht reiche. Sie mache ihnen lediglich ihre Lage bewusst – und mache sie wütend darüber. Doch sie wollen nicht verweilen in einem ständigen Reden und Klagen über die „schmerzliche Lage der Unterdrückten“. Praktische Beispiele dazu sind die politischen Diskussionen um das Abtreibungsgesetz und das Strafrecht zu Vergewaltigungen. Die Autorinnen merken, dass sie einerseits den Gesetzen gegenüber ein starkes Misstrauen haben und dass politische Konflikte eine Bedrohung für die Frauensolidarität sind – gleichzeitig erkennen sie das Bedürfnis, sich „ den Zugriff auf das Wort zu sichern.“

Eine der zentralen Erkenntnisse ist: „Wir sind nicht alle gleich“. Das mag banal klingen, ist aber für die Zusammenarbeit zentral. Die Erfahrung der Autorinnen von Libreria delle donne vereinfacht zusammen gefasst: Im geschützten Rahmen der Selbsterfahrungsgruppen mag das Gemeinsame, der Austausch, das Trösten und Bestätigen im Vordergrund gestanden haben. Für eine wirkliche Freiheit müssen die Beziehungen zwischen Frauen aber auch Unterschiede, Gegensätze und Unstimmigkeiten aushalten. Jüngere Frauen können die „Mutterfiguren“ als Herausforderung sehen, als „Lehrmeisterinnen“, aber sie müssen trotzdem ihre eigene Freiheit entwickeln. Auch der Umgang innerhalb der Frauengruppen wird nicht immer gleichberechtigt ablaufen: weil es Frauen gibt, die engagierter sind, andere vielleicht ein bisschen faul. Eine ist selbstbewusst oder gar dominant, die andere schafft es nicht, ihre Meinung vor mehr als drei Leuten zu vertreten.

Das sind meiner Meinung nach die drei wichtigsten Punkte in „Wie weibliche Freiheit entsteht“:

  1. um heraus zu finden, was weibliche Freiheit ist, brauchen wir den Austausch mit anderen Frauen.
  2. Um die Gesellschaft zu verändern, müssen wir ein unabhängiges Denken entwickeln – zum Beispiel was „Arbeit“ ist, was „wichtig“ ist und was nicht.
  3. Und um selbst in diesem Rahmen unser eigenes Begehren zu entwickeln, müssen wir uns gegenseitig erlauben, unterschiedlich zu sein.

Weitere Infos:

  • Vorwort zur Neuauflage des Buches bei Antje Schrupp im Netz
  • Interview mit Traudel Sattler, die das Buch vom Italienischen ins Deutsche übersetzt hat
  • Artikel zum Begriff „Von sich selbst ausgehen“ im „ABC des guten Lebens“, der auf das im Buch thematisierte „affidamento“ bezogen ist
  • Artikel bei Antje Schrupp über den Begriff „affidamento“

Wer sich für den Leseclub interessiert, meldet sich am besten per E-Mail unter info@frauenstudien-muenchen.de an. Der Eintritt ist frei, die Teilnehmerinnenzahl allerdings begrenzt.

Zur Erinnerung: 2014 haben wir uns mit den Büchern „Angst vorm Fliegen“ von Erica Jong und „Häutungen“ von Verena Stefan beschäftigt. Wir freuen uns über weitere Buchvorschläge.