Utopien: Neue Gesprächsreihe bei Frauenstudien München

Utopien: Neue Gesprächsreihe bei Frauenstudien München

„Und dann kam plötzlich alles anders.“ Ein Satz, bei dem fast schon zwangsläufig viele Frauen landen, werden sie auf ihre Lebensläufe angesprochen. Wenn sie erklären müssen, warum sie nach ihrem Hochschulstudium keine Arbeitsstelle angetreten haben, sondern lange Zeit dem Erwerbsmarkt fern geblieben sind, Kinder gekriegt und betreut haben. Warum sie Teilzeitstellen angenommen haben, nachdem die Kinder „aus dem Gröbsten raus waren“, die mit den studierten Qualifikationen gar nicht so viel zu tun haben.

„Perforierte Lebensläufe“ nennt die renommierte Soziologin Jutta Allmendinger dieses gesellschaftliche Phänomen, das hierzulande auf jeden Fall mehr ein Frauen- denn ein Männerthema ist.

Ich muss hier raus!

„Frauen führen ein viel zersplitterteres Leben als Männer, sind sie ja für so vieles zuständig“,

sagt Helke Sander, geboren 1937, Filmemacherin und Autorin, Ikone der deutschen Frauenbewegung. Vier Wochen bevor wir ihren Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers“ aus dem Jahr 1977 zeigen, sprechen wir mit der Berliner Autorin Nataly Bleuel über das, was hinter diesen zersplitterten Frauenleben steckt.

Nataly Bleuel wagt in ihrem Buch „Ich will raus hier“ einen Ausbruch aus ihrem gut durchorganisierten Alltag, um mit Anfang 40 ihr Leben zu ändern. Ihr Leben, das zwar gut erscheint – Partner, Kinder, Job -, bietet zu wenig Raum für all das andere jenseits Beruf und Familie. Darum entscheidet sie sich sehr radikal für eine private Revolution, einem Umsturz, der sich auf alle Bereiche ihres Lebens auswirkt:

„Wann, wenn nicht jetzt? Und dann wurde die Sehnsucht so stark, dass ich wusste: Ich muss raus hier!“ Nataly Bleuel

Alle, die am Abend im Münchner Stadtmuseum nicht dabei sein konnten, können Natalie Bleuel online einen Auszug aus ihrem Buch lesen sehen:

Barbara Streidl über das Gespräch an diesem Abend: Zwei Frauen sind auf dieser Zeichnung von Kheira Linder zu sehen, die eine schreibt, hat ein Glas Wein neben sich und sieht gleichzeitig aus dem Fenster, zurückgelehnt. Die andere macht noch viel mehr auf einmal: Sie tippt auf einem Laptop, hält einen Marmorkuchen, hat ein Baby auf dem Arm, wischt den Tisch und wässert Pflanzen.

Als Julia Fritzsche, die Moderatorin der Veranstaltung „Zerrissene Frauenbiografien“, die knapp 30 Anwesenden im Saal des Stadtmuseums fragt, wer sich in dieser Zeichnung wiederfindet, heben fast alle die Hände.

„Zerrissene Frauenbiografien“ – was diese Überschrift bedeuten soll, kann sich die Berliner Journalistin und Autorin Nataly Bleuel durch diese Zeichnung noch viel besser vorstellen, sagt sie, aber dass sie eigentlich die Vielfalt, die einzelnen Teile viel besser findet, als wenn alles ganz langweilig aus einem Guss wäre.

Ausbruch aus einem System, das funktioniert

Ihr Buch heißt „Ich will raus hier!“, weil ihr Leben ihr wie eine Zwiebel erschien. Sie wollte die vielen klebrigen Zwiebelhäute loswerden: die Art ihrer Beziehung, die Gestaltung des Zuhauses, den Umgang mit ihren Kindern, all das, und natürlich auch den Einfluss ihres Berufs. Es ging ihr um weniger Leistungsdruck, um einen Ausbruch aus einem System, das zwar funktionierte, sie aber dabei immens einengte. Ihr Buch ist ein Versuch, eine Reflexion – „denn richtig rauskommen tut man ja nicht“, sagt Nataly Bleuel.

Was falsch war zuvor? Dass sie sich immer hat treiben lassen vielleicht. Sie hat gerne vieles gleichzeitig gemacht, ohne Plan. Ohne Ziel. Das war schmerzhaft – und zugleich bewusst und verdrängt. Schließlich ist ihr ein „Hier bin ich – dort will ich hin“ total unsympathisch, wie sie sagt, vor allem als Frau.

Geboren 1967 steht Nataly Bleuel nun in der zweiten Hälfte ihres Lebens und fragt sich das, was sich viele hier fragen: Was nun? Habe ich das wirklich Wichtige gemacht? Wo ist meine Haltung zu den wirklich wichtigen Dingen denn hin? Nach wie vor ist ihre Arbeit wichtig, ermöglicht ihr die Teilhabe an der Welt. Und sie zieht es vor, als Journalistin auch mal unpopulärere Themen zu beschreiben als nur die, die größere Honorare einbringen.

Die Fähigkeit des Ausklinkens

Was hat sie verändert, wie ist sie „rausgekommen“? Immer hat sie die Fähigkeit des Ausklinkens aus dem Alltag bewundert, die ihr Partner so gut beherrscht: Sportschau anschauen, hinter die Zeitung setzen – weg. Um auch so ein Ausklinken zu schaffen, hat sie heute ein eigenes Zimmer im familiären Zuhause, so wie Virginia Woolfe das empfiehlt. Denn mal ins Schlafzimmer oder in die Küche zurückziehen, um bei sich zu sein, das war einfach nicht das Richtige. Weil sie sich von allen Seiten beansprucht fühlt, manchmal gar nicht mehr als Individuum.

Eine Frau im Publikum spricht aus, was wohl alle denken: „Toll, dass du so viel Privates mit uns teilst.“ Und dann fragt sie: „Aber wenn ich nur hinnehmen kann, aber nicht kämpfen?“ Nataly Bleuel ist bereit zu kämpfen. Gegen das Hamsterrad, das uns allen vorgaukelt, nie gut genug zu sein, schneller werden zu müssen – und erfolgreicher. Und sie kämpft auch gegen das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit, dass sie meint, selber schuld zu sein an ihrem Leben. Und den damit verbundenen „Luxusproblemen“, wie sie das alles auch mal lächelnd nennt.

„Burn-out hieß früher ‚depressive Anpassungsstörung'“, zitiert Moderatorin Julia Fritzsche Bleuels Buch. Warum nur gab es keinen Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, mit Freundinnen, um rauszukommen? Es scheint wohl, dass immer genug Kraft in Nataly Bleuel ist, einen eigenen Weg zu finden: das eigene Zimmer, eine offene Beziehung, mehr Reisen etwa. Was mit Sicherheit ein Vorbild ist für andere.

„Das Private ist nach wie vor politisch“

„Der Trugschluss der Frauenbewegung war, dass das richtige, wichtige Leben nur im Beruf zu finden ist“, sagt eine Frau aus dem Publikum. Und eine andere fügt hinzu: „An all dem, was hier und heute Abend besprochen wird, ist ganz klar zu erkennen, dass das Private nach wie vor politisch ist.“

 

Nataly Bleuel, 1967 geboren, ist Journalistin und Buchautorin. Drei Jahre lang war sie als Kulturredakteurin, Reporterin und Kolumnistin bei Spiegel Online angestellt. Heute schreibt sie freiberuflich für verschiedene Zeitschriften und Zeitungen und lebt in Berlin. „Ich will raus hier“ ist 2015 im Herder Verlag erschienen.

Julia Fritzsche, 1983 geboren, moderierte den Abend. Sie studierte Rechtswissenschaften und arbeitet als Autorin unter anderem für Bayern 2, das Bayerische Fernsehen und Arte. Sie widmet sich gesellschaftlichen und politischen Themen wie Geschlecht, Rassismus, soziale Teilhabe, Stadtentwicklung oder Sprache.

 

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