Feministischer Leseclub Frauenstudien München e.V.

Nachbericht von Laura Freisberg

„In dem Augenblick in dem ich politisch handele, bin ich nicht an mir interessiert, sondern an der Welt.“ Hannah Arendt, 1972

Die deutsch-jüdisch-amerikanische Denkerin Hannah Arendt (1906-1975) wird gemeinhin als die politische Denkerin schlechthin bezeichnet. In dem Leseclub am 22. September lag der Fokus auf ihrem Konzept „des Politischen“ bzw. den verschiedenen Raum-Konzepten, die sie entwickelt hat.

Arendts Konzepte des „Handelns“ und der „Pluralität“, die wir am 19. Oktober mit Antje Schrupp im Leseclub verhandeln, versteht man nur, wenn man weiß, wo Hannah Arendt sie verortet – und warum. Daher müssen wir uns erst mit ihrem Verständnis des „öffentlich-politischen Raumes“ auseinandersetzen.

In ihrem Buch Vita Activa oder Vom tätigen Leben reist Arendt in der Geschichte der politischen Philosophie weit zurück, um schließlich bei den griechischen Denkern vor Platon das Ideal der Polis (altgriechisch für Stadtstaat; der Raum, in dem ethisches Leben möglich wird) und bei Platon selbst den „Denkfehler“ zu entdecken, der schuld daran sei, dass die Philosophie seit Jahrtausenden ein Misstrauen gegen „das Politische“ hege. Der Denkfehler liegt laut Arendt in Platons Versuch, das Handeln im öffentlichen Raum durch „das Herstellen“ zu ersetzen, also aus der Politik eine „Kunstfertigkeit“ zu machen, die nicht von vielen gleichberechtigten Bürgern (Pluralität) ausdiskutiert wird, sondern von einigen wenigen oder gar einem einzigen Philosophen-König erledigt werden kann.

Arendt will also „das Politische“ vor den Übergriffen der Philosophie retten, die auch mit dem Anspruch, vernünftig zu argumentieren, diesen Raum zerstören.

Denn Arendts wichtigste These lautet: Das Politische und damit der öffentliche Raum ist ein stets gefährdetes Gut.

Hannah Arendts Credo: „Ich will verstehen“

Zu dem Zeitpunkt, als Arendt „Vita Activa“ schreibt, lebt sie bereits im New Yorker Exil. Es wurde ihr neues Zuhause, nachdem sie 1933 vor den Nazis fliehen musste – erst nach Frankreich, später in die USA. Sie hat bereits ihr umfassendes Werk „Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft“ veröffentlicht, doch der Schock, von den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten zu erfahren, sitzt immer noch tief. Ihr Credo war: “Ich will verstehen” – und in diesen drei Wörtern verbergen sich bei ihr gleichzeitig Inhalt ihrer politischen Theorie und ihre Methode. Arendt wollte verstehen, wie es in dieser Welt, in der wir leben, mit der Geistesgeschichte, die wir haben, so eine Katastrophe wie den Holocaust geben konnte. In dem berühmten Fernsehinterview mit Günter Gaus 1964 sagt sie:

„Wenn andere Menschen verstehen, wie ich verstanden habe, dann gibt mir das eine Befriedigung wie ein Heimatgefühl.“

Arendt geht in der Philosophie-Geschichte zurück, in eine Zeit vor Platon und findet dort ein Ideal von Politik, einen idealen „öffentlich-politischen Raum“, der dem Politischen die größtmögliche Würde und Bedeutung beimisst: die griechische Polis. In „Vita Activa“ betreibt sie eine Art Montage, das heißt, sie sucht sich aus der Geistesgeschichte Konzepte und Ideen, um ihre eigenen Vorstellungen weiterzuentwickeln. Bei Arendts Vorgehensweise besteht auch ein gewisses Risiko: Sie bezieht sich auf geschichtliche Tatsachen – es gab eine antike Polis –, allerdings verklärt sie dieses Konzept, damit daraus ein übergeschichtliches Ideal werden kann.

Der Sinn von Politik ist Freiheit

Hannah Arendt unterscheidet in ihrem Werk „Vita Activa“ drei menschliche Tätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln. Das Handeln ist nach Arendt nicht zweckgerichtet. Sie versteht es als eine Tätigkeit, die nur mit anderen und in einem öffentlichen und politischen Raum möglich ist. Sprechen ist bei Arendt eine Form des Handelns. So erklärt sie:

„Die meisten Taten haben die Form von Worten.“

Seit Platon mache nun das politische Denken des Westens den schwerwiegenden Fehler, das Handeln durch das Herstellen zu ersetzen. Aus Politik wird ein Handwerk, eine Kunst. Doch für Arendt ist der Sinn von Politik – wie sie in den Fragmenten „Was ist Politik?“ schreibt – die „Freiheit“, die sie mit der Tätigkeit des Handelns verbindet. Wird also das Handeln durch Herstellen ersetzt, wird die Freiheit abgeschafft.

Interessant ist, dass bei Arendt diese politische Freiheit nur im Zusammensein mit Anderen überhaupt möglich ist – also in der Gemeinschaft. Ich denke, das ist einer der zentralen Punkte, die aus feministischer Sicht unbedingt diskutiert werden sollten.

Elitär oder demokratisch?

Bei Arendt besteht eine enge Verbindung zwischen ihrem Freiheitsbegriff und ihren Raum-Begriffen, denn das Handeln bildet erst den politischen Raum, es strukturiert ihn und ist gleichzeitig sein Inhalt. Innerhalb ihrer Vielzahl von Raumbegriffen stechen zwei durch ihre Bedeutung in Arendts politischer Theorie hervor: Ich gehe davon aus, dass der Begriff des „Erscheinungsraumes“ und der Begriff des „öffentlich-politischen Raumes“ die beiden zentralen Raum-Begriffe sind, da Arendt sie am ausführlichsten entwickelt. Tatsächlich handelt es sich dabei um Konzepte, die zwei Politikmodelle zur Folge haben, welche wiederum gegensätzliche Interpretationen von Arendts politischer Theorie zulassen.

Je nachdem, welchen Raum-Begriff man heranzieht, kann man Arendt entweder als sehr elitär oder als demokratisch bezeichnen. Die klare Trennung zwischen öffentlich und privat ist die wichtigste Voraussetzung für den öffentlich-politischen Raum der Wenigen. Es war sozusagen der „Luxus“ der Polis, Sklaven und Frauen auszuschließen. Eine „soziale Frage“ gibt es in Arendts Modell der Polis nicht. Sie äußert sich weder dazu, ob eine Gleichheit der Wenigen einer Gleichheit der Vielen vorzuziehen ist, noch geht sie darauf ein, wie sehr Frauen in der antiken Polis auf ihre körperliche Funktion reduziert werden. Es scheint für Arendt zumindest in „Vita Activa“ einfach kein Thema zu sein.

Erscheinungsraum statt Polis-Modell

Es ist nicht ganz nachvollziehbar, warum sich Arendt so ausführlich mit dem Konzept der Polis beschäftigt, da es ihrer Meinung nach nicht auf die modernen Gesellschaften übertragbar ist. Doch Arendt verwendet auch einen anderen Raum-Begriff, der sehr viel zeitgemäßer ist: den des Erscheinungsraumes. Dieser entstünde, „wo immer Menschen handelnd und sprechend miteinander umgehen“– und dabei urteilen, sollte man hinzufügen. Begrenzt wird die Teilhabe am Erscheinungsraum nur durch das persönliche Engagement, das aufgebracht werden muss. Arendt war der Ansicht, dass nur derjenige an der Politik und an der Macht teilhaben sollte, der sich dafür wirklich interessiert. Die Macht des Erscheinungsraumes ist nicht institutionalisiert, sondern potentiell, instabil und inklusiv.

Müssen wir Lust haben auf Pluralität?

In Bezug auf die Gegenwart wurden im Leseclub vor allem zwei Aspekte diskutiert: Wie entstehen solche „Erscheinungsräume“, wer hat welchen Zugang – und würden Soziale Medien auch schon als solche Räume gelten? Und drängender erschien aber die Frage: Warum sollten wir uns überhaupt mit der Pluralität des Erscheinungsraumes befassen – oder anders formuliert: Warum sollten wir Lust auf Pluralität haben? Gibt es vielleicht eine Art moralische Verpflichtung dazu?

Konkreter wird diese Überlegung durch die Frage: Muss man mit anderen Menschen diskutieren, auch wenn man ihre Meinung ablehnt? Wie sehr entspricht ein „Erscheinungsraum“ noch der Arendtschen Pluralität, wenn ich nur mit Menschen diskutiere, die eine ähnliche Meinung und Überzeugung haben?

Eine abschließende Antwort wurde darauf natürlich nicht gefunden. Sie kann im nächsten Leseclub mit Antje Schrupp am 19. Oktober 2016 weiterdiskutiert werden. Der Abend mit Antje Schrupp vertieft „Vita Activa“ und konzentriert sich dabei vor allem auf Arendts Konzept des Handelns.


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