Feministischer Leseclub Frauenstudien München e.V.

Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ gilt bis heute als Grundlage der feministischen Diskussion. Der Essay, erstmals erschienen 1949, untersucht die Position der Frau in den unterschiedlichsten Gebieten, psychologisch, ökonomisch, historisch und literarisch. De Beauvoir kommt dabei zu dem Schluss, dass das männliche Prinzip als Vorlage für alles gilt, und dass das weibliche, andere Prinzip sich dem zu beugen hat. Der Satz „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es“ steht stellvertretend für de Beauvoirs These über die Unfreiheit von Frauen.

Die Frankfurter Publizistin Antje Schrupp (s. Foto) zählt „Das andere Geschlecht“ bis heute zu ihren Lieblingsbüchern – sie hat es als 17-Jährige zuerst gelesen und später immer wieder. Wir konnten sie für den Leseclub als Referentin zu diesem Buch gewinnen. Sie schreibt über das Buch und seine Rezeption:

Simone de Beauvoir hat 1949 mit „Das andere Geschlecht“ die erste umfassende europäische Kulturanalyse zur Geschlechterdifferenz geschrieben. Unmittelbarer Anlass für das Projekt war ihre Einsicht, dass eine formale Gleichstellung von Frauen – in Frankreich war kurz zuvor das Frauenwahlrecht eingeführt worden – nichts an der gesellschaftlichen Unterordnung von Frauen als „zweitrangiges Geschlecht“ ändern wird, da dieses Geschlechterarrangement viel zu tief kulturell eingeschrieben ist.

Zwanzig Jahre später wurde das Buch in der zweiten Frauenbewegung zum feministischen Klassiker. Beauvoir selbst war jedoch nicht dem Feminismus, sondern dem Existenzialismus verpflichtet – ihre Analyse lässt sich nur vor dem Hintergrund dieser philosophischen Richtung verstehen, deren maßgebliche Vertreterin sie war. Zum Beispiel ist Beauvoir der Ansicht, dass aus der Gebärfähigkeit der Frauen quasi „naturgegeben“ eine Benachteiligung den Männern gegenüber folgt, weil sie aufgrund ihrer Sorgepflichten nicht in gleicher Weise ihre Projekte in der Welt verwirklichen können.

Stimmt das? Oder ist dieses existenzialistische Verständnis vom Menschsein selbst ein Konstrukt, das hinterfragt und verändert werden kann?

Antje Schrupp sprach im Leseclub leidenschaftlich und persönlich über „Das andere Geschlecht“ und seine Rezeption. Wer am 11. Juni nicht dabei sein konnte, kann ihren Vortrag als Videomitschnitt ansehen:

Wenn man „Das andere Geschlecht“ rückblickend wieder liest, ist vor allem frappierend, dass „die Situation der Frau“ sich in manchen Bereichen in den vergangenen 65 Jahren vollkommen umgedreht hat (vor allem was die Bildung und Ausbildung von Mädchen betrifft und in Hinblick auf weibliches Selbstbewusstsein), während sich in anderen Bereichen kaum etwas verändert hat, etwa bei der nach wie vor unmöglichen „Vereinbarkeit“ von Beruf und Familie und im Hinblick auf die fehlende kulturelle Wertschätzung weiblicher Subjektivität.

Wie also stellen sich die von Beauvoir aufgeworfenen Fragen heute, vor dem Hintergrund der Erfahrung mit emanzipatorischer Frauen- und Gleichstellungspolitik? Was ist geschafft, was bleibt zu tun?

 

Laura Freisberg, Moderatorin des Leseclubs, zieht ein Fazit:

„Während ich Das andere Geschlecht schrieb, wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass ich selbst ein falsches Leben führte, oder besser, dass ich von einer männlich orientierten Gesellschaft profitierte, ohne mir darüber bewusst zu sein. (…) Natürlich war ich beruflich ziemlich erfolgreich, was mich in meinem Glauben bestärkte, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sein könnten, wenn die Frauen diese Gleichberechtigung nur wollten.“

Das erklärt Simone de Beauvoir 25 Jahre nach der Veröffentlichung des Buches in einem Interview mit dem Journalisten John Gerassi, das in dem Sammelband „Absolute Simone de Beauvoir“ auf Deutsch abgedruckt ist. Dieses ausführliche Gespräch aus dem Jahr 1976 ist sehr hilfreich, wenn man sich – noch mal vierzig Jahre später– de Beauvoirs großem Werk nähert. Beispiele, die auf diese Art der Sekundärliteratur Lust machen können:

Im Interview gibt Simone de Beauvoir zu, wie männlich geprägt ihr eigenes Denken war, bevor sie „Das andere Geschlecht“ schrieb. Aber dieses Denken steckt auch noch in ihrem Buch selbst. Denn der Blick auf das Frau-Sein, den die Denkerin auch in „Das andere Geschlecht“ noch hat, ist tatsächlich von einer männlich orientierten Gesellschaft dermaßen geprägt, dass gerade der erste Teil mit dem Titel „Schicksal“ etwas Deprimierendes hat.

„Das anderen Geschlecht“ ist vom männlichen Blick geprägt

Simone de Beauvoir schreibt über körperliche Mängel der Frau, sie schreibt über den weiblichen Zyklus, als wäre er eine Krankheit. Und sie stellt die Frage, was Frauen eigentlich zu der Entwicklung von Politik, Kunst, Technik, Wissenschaften leisten. Ihr Fazit: Männer schaffen und töten, sie formen die Welt. Frauen hingegen gebären nur. Die Bedeutung des männlichen Lebens weist über das bloße Dasein hinaus (Transzendenz), die des weiblichen Lebens nicht (Immanenz).

Gleichzeitig schreibt Simone de Beauvoir aber auch:

„Es muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es in der menschlichen Gesellschaft nichts natürliches gibt und die Frau unter anderem ein Zivilisationsprodukt ist.“

Oder wie sie in dem Zitat erklärt, mit dem sie berühmt geworden ist:

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es. Keine biologische, physische oder ökonomische Bestimmung legt die Gestalt fest, die der weibliche Mensch in der Gesellschaft annimmt.“

De Beauvoir war Existenzialistin, eine ihrer wichtigsten Fragen: die nach der Freiheit des Einzelnen.

Eine spätere Kritik an ihrem Buch war, dass sie nicht auf weibliche Denkerinnen eingeht, dass sie so tut, als wäre die Geschichte der Frauen eine düstere Angelegenheit und erst ihr Nachdenken im Jahr 1949 wäre ein Versuch, Licht ins Dunkel zu bringen. Simone de Beauvoir hat sich damals aber gar nicht als Feministin gesehen. Und die Möglichkeit von Frauenfreundschaften, von Solidarität unter Frauen ist für de Beauvoir eine ziemlich neue Errungenschaft. So erzählt sie in dem Interview von 1976:

„Ich meine, früher, in meiner Jugend, und bis vor kurzem, konnte sich zwischen Frauen nie eine wirkliche Freundschaft entwickeln. Sie sahen sich als Rivalinnen, ja sogar als Feinde oder zumindest als Konkurrentinnen. Heute, und das größtenteils Dank der Selbsterfahrungsgruppen, sind Frauen nicht nur fähig, wahre Freundinnen zu werden, sie haben auch gelernt, warm, offen und zutiefst zärtlich miteinander umzugehen.“

Die bittere Bilanz der „sexuellen Befreiung“

Es gibt Kapitel in „Das andere Geschlecht“, die können nur als historisches Zeugnis gelesen werden und das gilt natürlich auch für das Interview. Darin zieht sie eine bittere Bilanz der „sexuellen Befreiung“:

„Aufgrund des ganzen Rummels liegt das Wort „Befreiung“ jedem Mann auf der Zunge – ob er sich über die Frauenunterdrückung nun bewusst ist oder nicht. Die allgemeine Einstellung der Männer ist heute: Da du ja jetzt befreit bist, können wir auch miteinander ins Bett gehen. Mit anderen Worten, Männer sind jetzt viel aggressiver, vulgärer, gewalttätiger. Als ich jung war, konnten wir den Boulevard Montparnasse runterschlendern oder in Cafés sitzen ohne ständig belästigt zu werden. Oh ja, man hat uns zugelächelt, zugezwinckert, Blicke zugeworfen. Aber heutzutage ist es für eine Frau unmöglich, allein in einem Café zu sitzen und ein Buch zu lesen. Und wenn ein Mann sie anspricht und sie ihm ernsthaft zu verstehen gibt, in Ruhe gelassen werden zu wollen, muss sie Bemerkungen einstecken wie „Schlampe“ oder „Hure“.“

Vieles von dem, was Simone de Beauvoir analysiert, wirkt aber fast zeitlos, zum Beispiel, wenn sie über Unterdrückungsmechanismen schreibt. Oder wenn sie in dem Interview noch einmal zusammenfasst, warum Feminismus unbedingt links sein muss:

„Frauen aus der Rechten wollen keine Revolution. Sie sind Mütter, Ehefrauen, ihrem Mann ergeben. Oder, wenn sie sich überhaupt für etwas einsetzen, dann nur, um ein größeres Stück vom Kuchen abzubekommen. Sie wollen mehr verdienen, mehr Frauen ins Parlament wählen oder eine Frau als Staatspräsidentin sehen. Grundsätzlich sind sie von der Ungleichheit überzeugt, sie bevorzugen jedoch ganz oben, statt unten auf der Gesellschaftsleiter zu stehen.“

De Beauvoirs Forderungen sind heute wieder aktuell

Diese Beschreibung trifft sehr gut auf die Konzepte, unter denen heute „Frauenpolitik“ verstanden wird: eine „Frauen-Quote“ für Vorstände. Finanzielle Anreize wie Elterngeld, von der aber vor allem die Mittelschicht profitiert, nicht die alleinerziehende Mutter. Ihre Forderung nach einer Umwandlung des Wertesystems, ja nach einer Revolution, ist der Standpunkt, an den junge Feministinnen wie Laurie Penny heute anknüpfen. Simone de Beauvoir meinte dazu 1976:

„Das gesamte Wertesystem einer Gesellschaft umzustürzen, den Mythos Mutterschaft zu zerstören: Das ist dagegen revolutionär. Also: Geschlechterkampf bedeutet gleichzeitig Klassenkampf, Klassenkampf bedeutet dagegen nicht automatisch Geschlechterkampf. Deshalb sind Feministinnen echte Linke.“

 

Zum Weiterlesen:

  • Antje Schrupp im Netz: www.antjeschrupp.de
  • Margarete Stokowski in der taz über das Buch und seine Rezeption: www.taz.de
  • „Absolute – Simone de Beauvoir“, orange press, 224 Seiten, 15 Euro

Das Buch kann gerne über die Buchhandlung „Buch & Bohne“ bezogen werden.